Dekolonialisierung

Glossarbeitrag: Dekolonialisierung

Der Begriff Dekolonialisierung ergibt sich aus dem Präfix ‚de-’ und dem Wortstamm Kolonialismus. Die Art der Wortbildung lässt uns bereits vermuten, dass es sich um den Abbau oder das Entfernen des Letzteren handelt. Entsprechend ist für ein Verständnis des Begriffes Dekolonialisierung die Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Wortstammes Voraussetzung. Und zwar beschreibt Kolonialismus umgangssprachlich meist den jahrhundertelang andauernden Prozess von Machtsicherung und Machterweiterung europäischer Staaten im Rest der Welt. Durch Land- und Ressourcenraub sowie Unterwerfungs-, Ausbeutungs-, und Kommodifizierungsmechanismen gegenüber nicht-weiß-christlichen Menschen und ihren Lebensräumen schufen die Europäer*innen eine totale Umstrukturierung wirtschaftlicher Systeme bis hin zum heutigen Kapitalismus. Die Hinterlassenschaften des Europäischen Kolonialismus, genannt koloniale Kontinuitäten, bewirken, dass ehemals kolonialisierte Menschen und Staaten nach wie vor ökonomisch ausgebeutet und abhängig sowie politisch fremdbestimmt und instabil sind, sowie auf struktureller Ebene rassistisch diskriminiert werden.

Dekolonialisierung beschreibt also den Prozess des weltweiten in-Frage-stellens, Anfechtens, Bekämpfens und Dekonstruierens des Europäischen Kolonialismus mitsamt aller Unterwerfungs-, Ausbeutungs-, und Kommodifizierungsmechanismen, eurozentrischen Denkweisen und weiteren kulturellen wie sozialen Hinterlassenschaften, die er verbreitet, implementiert und gefestigt hat. Dieser Prozess geht mit der Erschaffung und Förderung von Autonomie, Selbstermächtigung und Selbstbestimmung der ehemals kolonialisierten Landflächen, Ressourcen, Körper und Geister einher. Die Dekolonialisierung verlief – beziehungsweise verläuft keineswegs einheitlich und war – beziehungsweise ist vielschichtiger und langwieriger Natur. Bereits über etwa 200 Jahre dauert sie an, je nachdem mit welchem Start- und Endpunkt gerechnet wird. Dabei ist anzumerken, dass Schwarze und indigene Menschen dem Europäischen Kolonialismus seit jeher widerständig gegenüberstanden und, dass der Dekolonialisierungsprozess in Hinsicht kolonialer Kontinuitäten noch nicht abgeschlossen sein kann. Trotzdem werden die Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegungen in den Amerikas des 18. Jahrhunderts häufig als Startpunkt markiert, während als Endpunkt oft der Zeitraum nach dem zweiten Weltkrieg genannt wird, in welchem verschiedene afrikanische und asiatische Kolonien ihre formelle Unabhängigkeit erlangten.

  • Das Beispiel Haiti beziehungsweise ‚Ayiti‘: Der haitianische Dekolonialisierungsprozess von 1791 – 1804 wird von dekolonialen Denker*innen als einzigartiges Beispiel Schwarzen Widerstands betrachtet. Er begann durch einen Aufstand der Sklav*innen und führte dazu, dass Haiti der erste von ehemals versklavten Menschen gegründete Staat wurde. Sie stellten nicht nur die formelle Kolonialherrschaft in Frage, sondern auch die durch sie geschafften Gesellschaftsstrukturen.

Trotz der beträchtlichen Verluste für europäische Kolonialmächte, wird das Erlangen formeller Unabhängigkeiten für ehemalige Kolonien wie Ayiti, retrospektiv als positive historische Entwicklung betrachtet. Dabei verliefen Dekolonialisierungsprozesse, wie auch in dem angeführten Beispiel ersichtlich wird, keineswegs immer gewaltfrei. Dekolonialisierung musste in vielen Fällen blutig erkämpft werden. Es stellt in einer von eurozentrischen Denkweisen geprägten Welt eine große Herausforderung dar, die meist besonders sichtbare Gewalt im Kampf um Autonomie, Selbstermächtigung und Selbstbestimmung als Widerstand anzuerkennen, während die meist besonders unsichtbare Gewalt struktureller Natur langfristig entstandener, verbreiteter und gefestigter Unterwerfungs-, Ausbeutungs-, und Kommodifizierungsmechanismen mit Leichtigkeit normalisiert wird.

Wie ebenfalls durch das angeführte Beispiel ersichtlich wird, steht der offizielle Erhalt formeller Unabhängigkeit in den gängigsten Auseinandersetzungen mit Dekolonialisierung im Vordergrund. Das führt dazu, dass Dekolonialisierung als Prozess oftmals in der Vergangenheit verortet wird. Und doch sind Rufe nach Dekolonialisierung im Hinblick auf koloniale Kontinuitäten von sozialen Bewegungen wie etwa #BlackLivesMatter besonders heute noch sehr laut. Wie weiter oben schon erwähnt, bedeutet Dekolonialisierung nämlich auch, zu hinterfragen auf welche Weisen unsere Gesellschaften heute noch durch die eurozentrischen Denkweisen und weiteren kulturellen und sozialen Hinterlassenschaften des Europäischen Kolonialismus geformt sind. Es ist also ebenfalls notwendig die psychische und kulturelle Unterwerfung, Ausbeutung und Kommodifizierung zu hinterfragen, anzufechten, zu bekämpfen und zu dekonstruieren. Der Kolonialismus äußerte sich nicht nur in Formen der physischen Gewalt, sondern auch in psychischen und kulturellen. Insgesamt war es das Ziel, die Autonomie, Selbstbestimmung und das Selbstbewusstsein der kolonisierten Menschen zu untergraben.

Ein Beispiel für psychische Gewalt stellt der sogenannte Bleistifttest dar, der im Südafrika der Apartheid angewandt wurde um anhand der Unterscheidung von Haarstrukturen Menschen in unterschiedliche Rassifizierungskategorien einzuteilen um ihnen damit bestimmte Rechte, wie etwa Mobilität, zu entziehen. Diese Praktiken beschädigten das Selbstbild und die Identität Schwarzer Menschen, indem eine vermeintliche Minderwertigkeit vermittelt wurde. Bis heute wirken sich rassistische Zuschreibungen strukturell auf Personen mit Afro-Haar negativ aus. Heute setzen sich dekoloniale soziale Bewegungen wie etwa das ‚Natural Hair Movement‘ dafür ein, dass Schwarze Menschen wieder eine gesunde und wertschätzende Beziehung zu ihren eigenen Haaren aufbauen können. Beispielsweise indem bildungspolitische Angebote auf die Verknüpfungen zwischen antikolonialem Widerstand und Afro-Harr aufmerksam machen oder indem eurozentrische Schönheitsideale dekonstruiert werden.

Ein Beispiel für kulturelle Gewalt stellt die systematische Auslöschung indigener Wissenssysteme, sowie etwa Sprachen, dar. Der Europäische Kolonialismus ging für die Kolonialisierten Menschen nämlich mit dem Zwang einher, sich an die Wissenssysteme ihrer Peiniger auf Kosten ihrer eigenen zu assimilieren. Indigene Sprachen wurden ausgerottet und europäische Sprachen überall auf der Welt eingeführt und den kolonialisierten Menschen aufgezwungen. Heutzutage sind europäische Sprachen meist die Amtssprachen ehemals kolonialisierter Staaten. Dadurch werden indigene Menschen, die antikolonialen Widerstand praktizieren indem sie weiterhin in ihren Gemeinschaften leben und ihre Sprachen am Leben erhalten, für ebendiesen Widerstand bestraft. Der Zugang zur gesellschaftlichen Partizipation durch die staatliche nicht-Anerkennung indigener Sprachen bleibt ihnen verwehrt. Deswegen ist der fortbestehende Kampf um den Erhalt von Sprachenvielfalt in den ehemaligen Kolonien, als ein nicht abgeschlossener Kampf für Dekolonialisierung zu betrachten. Dieser Kampf zeigt sich auch in Migrationsdebatten des deutschsprachigen Raums darin, dass ‘dem Können’ europäischer Sprachen ein größerer Wert beigemessen wird, als dem Können anderer, nicht-europäischer Sprachen.

Weitere Beispiele für fortbestehende Dekolonialisierungsprozesse lassen sich auch in den Kolonialismen des deutschsprachigen Raums wiederfinden. Etwa in den Forderungen von Aktivist*innen und Vertreter*innen um Reparationen für begangenen Gräueltaten, wie beispielsweise der Deutsche Genozid an den OvaHerero und Nama. Oder in den Forderungen um die Restitution kolonialer Raubgegenstände, also von ethnografischen und anthropoligischen Gegenständen – darunter auch sterbliche Überreste von Menschen, die bis heute noch europäische Museen schmücken. Und auch die Forderungen nach gerechten Lieferketten, wie etwa in der Schokoladenindustrie.

Der Europäische Kolonialismus hat Macht- und Unterdrückungsstrukturen geschaffen, die sich so tief in unsere Gesellschaften gebohrt haben, dass wir seine Hinterlassenschaften in allen Ebenen und Aspekten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens als koloniale Kontinuitäten wiederfinden. Eine dieser Kontinuitäten ist die weiß-christliche Vorherrschaft, die sich unter anderem in Form von Rassismen manifestiert. Dekolonialisierung und Anti-Rassismus gehen in den Forderungen sozialer Bewegungen wie #BlackLivesMatter daher Hand in Hand. Dekoloniale Bewegungen sehen die ‚Dekolonialisierung von Körper und Geist‘ als noch längst unabgeschlossenen Prozess an. Sie stellen normalisierte Realitäten einer postkolonialen Welt in Frage, fechten koloniale Kontinuitäten als fortwährende Kolonialismen an, bekämpfen Macht- und Unterdrückungssysteme auf intersektionale Weise und versuchen damit letztendlich den Europäischen Kolonialismus weiter zu dekonstruieren. In Anbetracht der Tatsache, dass nicht nur die weiß-christliche Vorherrschaft, sondern auch weitere Unterwerfungs-, Ausbeutungs-, und Kommodifizierungsmechanismen wie das Patriarchat oder Ableismus mit kolonialen Kontinuitäten verflochten sind, wird deutlich, dass jegliche Kämpfe um Soziale Gerechtigkeit nur dann vollständig sind, wenn sie auch eine dekoloniale Perspektive innehaben. Oder wie es Audre Lorde gesagt hat: „Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Fesseln trägt als ich.“.

Schlusswort der Autorin: Decolonization Still Matters.

 

2024
Camila Schmid Iglesias (sie/ihr)
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