Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung

Das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ trat 2021 in Kraft und schränkt chirurgische Eingriffe an nicht einwilligungsfähigen inter* Kindern, die allein dem Zweck dienen, die Körper an männliche oder weibliche Normvorstellungen anzugleichen, ein. Es ist somit das erste Gesetz in Deutschland, das die Rechte von inter* Kindern auf körperliche Integrität explizit benennt und schützt. Das Gesetz ist einerseits ein Meilenstein für die inter* Bewegung, die seit den 1990ern für die körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung von inter* Personen kämpft. Es stärkt auch die Rechte von Kindern. Auf der anderen Seite kritisieren Selbstvertretungsorganisationen das Gesetz, weil es inter* Kinder letztlich immer noch nicht ausreichend vor unnötigen medizinischen Eingriffen schützt.

Das Gesetz fügt ins Bürgerliche Gesetzbuch den § 1631e ein und ändert bzw. ergänzt einige andere Paragrafen, die durch die Neuregelungen betroffen sind. Im Gesetz wird die Formulierung „Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ verwendet, ein Begriff, der sich einerseits von einer grundlegenden Pathologisierung von inter* Körpern distanziert, dennoch aber der Logik von Norm und Abweichung verhaftet bleibt und auch nicht als Selbstbezeichnung verwendet wird. Zudem weisen Selbstvertretungsorganisationen darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs insofern problematisch ist, als die Grenze zu sog. „genitalen Fehlbildungen“ fließend ist und daher die Gefahr besteht, dass nicht alle Kinder, die unnötigen Eingriffen ausgesetzt werden könnten, geschützt werden. Deswegen fordern sie auch, dass die medizinischen Akten zu allen Eingriffen, die die Genitalen verändern, aufbewahrt werden.

Das Gesetz bezieht sich ausschließlich auf nicht einwilligungsfähige Kinder. Das Gesetz entzieht Sorgeberechtigten die Befugnis, in operative Eingriffe einzuwilligen, die lediglich der Angleichung an weibliche oder männliche Erscheinungsbilder dienen. Sorgeberechtigte dürfen auch in weitere Eingriffe an den Geschlechtsmerkmalen nur an Kindes statt einwilligen, wenn diese Eingriffe nicht aufgeschoben werden können, bis das Kind selbstbestimmt entscheiden kann. Außerdem muss ein Familiengericht einen solchen Eingriff genehmigen und sich hierbei am Kindeswohl orientieren. Die Entscheidung des Gerichts soll auf der Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission erfolgen. Dieser gehören zwei Ärzt*innen, eine Person mit psychologischer Expertise und eine Person mit ethischer Expertise an. Lediglich auf Wunsch der Eltern kann optional eine inter* Person mit in die Kommission aufgenommen werden. Somit bleibt die Autorität über inter* Körper in den Händen von sogenannten Expert*innen, die selbst nicht inter* sind und klinische Perspektiven überwiegen in der Zusammensetzung der Kommission. Auch in der Stellungnahme bleibt das Einholen der Stellungnahme einer inter* Person und die Berücksichtigung ihrer Empfehlung optional. Insofern ist das Gesetz ein wichtiger Schritt in Richtung der Wahrung der körperlichen Integrität von inter* Kindern, aber bricht nicht mit der medizinischen Deutungshoheit über inter* Körper. Das ist auch deswegen problematisch, weil die Institution Medizin in den letzten Jahrzehnten genau die Instanz war, die inter* Körper ohne medizinischen Grund zwangsbehandelt hat und somit hauptverantwortlich für die Verletzung der Menschenrechte von inter* Personen und mit den Behandlungen einhergehende Traumatisierungen ist, ohne dass diese Geschichte angemessen aufgearbeitet wurde. Wenn der Gesetzgeber also genau die bis dato die Rechte von inter* Personen verletzende Institution in einer Kommission eine machtvolle Position einräumt, die inter* Kinder vor genau dieser Institution schützen soll, ist das eine höchst problematische institutionelle Struktur. Das Gesetz macht keine Beratung von Eltern durch inter* Personen zur Pflicht, obwohl Eltern gerade von einer peer-Beratung durch erwachsene inter* Personen Ängste genommen werden könnten und eine gute Vorbereitung auf das Leben mit einem inter* Kind mit allen Chancen und Herausforderungen erhalten könnten. Selbstvertretungsorganisationen forderten daher auch, dass Beratungen durch geschulte inter* Personen verpflichtend sein müssten.

Das Gesetz bleibt auch vage, was die Begründung für einen Eingriff angeht, sodass hier ein großer Interpretationsspielraum übrig bleibt, der die Gefahr birgt, dass bisher übliche Eingriffe von der Medizin einfach weiter als angemessen eingeschätzt werden, ohne dass die Erfahrungen von inter* Personen strukturell berücksichtigt werden, z.B. indem Evidenz-basierte Studien zu den Langzeitfolgen der medizinischen Eingriffe sowie das Erfahrungs- und Expert*innenwissen von inter* Personen und ihren Selbstvertretungsorganisationen als Grundlage für Entscheidungen dienen würden. Selbstvertretungsorganisationen und das Deutsche Institut für Menschenrechte beispielsweise bemängelten vorab, dass u.a. ein explizites Verbot des „Bougierens“ im Gesetz fehlt. Das sog. Bougieren dient dem regelmäßigen Dehnen einer chirurgisch angelegten Neovagina (z.B. durch das Einführen von Fingern oder Gegenständen durch die Eltern) und wurde von den betroffenen inter* Personen wiederholt eine Erfahrung sexualisierter Gewalt geschildert.

 

Unklar bleibt auch, ab wann die Kinder selbst als fähig betrachtet werden können, eigene Entscheidungen zu treffen bzw. an den Entscheidungen mit beteiligt zu werden. So gesehen bleibt das Gesetz eher dem Kinderschutz als einer echten Stärkung von Kinderrechten verbunden, weil u.a. der Partizipationsgedanke zu kurz kommt.

Das Gesetz stellt insgesamt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Selbstbestimmung von inter* Personen dar, aber schützt inter* Kinder noch nicht konsequent genug und verändert das strukturelle Machtgefälle zwischen der Medizin und inter* Personen nicht grundlegend.

 

2023
Robin Bauer

Literatur

  • De Silva, Adrian (2007): Physische Integrität und Selbstbestimmung: Kritik medizinischer Leitlinien zur Intersexualität. In: Zeitschrift für Sexualforschung 20, S. 176-183.
  • Deutsches Institut für Menschenrechte (2021): Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. https://www.bundestag.de/resource/blob/816910/9ef1eb47e5d5954c6164ee9dec3a3bb8/stellungnahme-kittel_dim-data.pdf, 25.02.2025.
  • Gregor, Joris Atte (2015): Constructing intersex. Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie. Bielefeld: transcript.
  • Hoenes, Josch u.a. (2019): Häufigkeit normangleichender Operationen “uneindeutiger” Genitalien im Kindesalter. Follow Up-Studie. Ruhr-Universität Bochum. https://omp.ub.rub.de/index.php/RUB/catalog/book/113, 03.12.2021
  • Intersexuelle Menschen e.V. (2020): Stellungnahme zum weiteren Gesetzgebungsverfahren eines „Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“. https://im-ev.de/pdf/2020-12-02-Stellungnahme-zum-weiteren-Gesetzgebungsverfahren.pdf, 25.02.2025.