Juristisches Geschlecht
Geschlecht hat in unserer Gesellschaft einen strukturellen sowie institutionellen Charakter und stellt auch eine rechtliche und verwaltungstechnische Kategorie dar. Historisch hatte der Geschlechtseintrag u.a. folgende Funktionen: Menschen verbindlich in genau zwei Geschlechter einzuteilen, einen Wechsel von der einer Kategorie in die andere zu unterbinden und die beiden Kategorien mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten auszustatten, wie z.B. dem Wahlrecht, das bis 1918 Männern vorbehalten war, oder der Wehrpflicht. In Zeiten rechtlicher Gleichstellung der Geschlechter ist fragwürdig, welchen Zweck die staatliche Registrierung von Geschlecht erfüllen soll. Denn eine Identifizierung von Menschen ist z.B. anhand des Lichtbildes in Ausweispapieren auch ohne Angabe des Geschlechts möglich.
Das juristische Geschlecht nimmt u.a. die Form des Personenstands an. In Deutschland musste bis 2013 in die Geburtsurkunde das Geschlecht aller Neugeborenen als männlich oder weiblich eingetragen werden. Obwohl das Geschlecht im Recht nie eindeutig definiert wurde, dient als Grundlage für diesen Eintrag das Geschlecht, das aufgrund biologischer Kriterien bei der Geburt zugewiesen wird. In einer ersten Reform regelte das Transsexuellengesetz (TSG) von 1981, wie trans* Personen ihren Vornamen sowie ihren Personenstand ändern können, was jedoch Bedingungen geknüpft war, die Menschenrechte von trans* Personen verletzten. Das Bundesverfassungsgericht hat das Gesetz daher in zahlreichen Punkten für verfassungswidrig erklärt, sodass Reformen notwendig wurden.
Durch die frühere rechtliche Notwendigkeit des zeitnahen Eintrags als männlich oder weiblich nach der Geburt entstand der Druck, auch bei intergeschlechtlichen Neugeborenen ein Geschlecht festzulegen. Die Festlegung des juristischen Geschlechts diente dabei auch als Rechtfertigung für die Vereindeutigung des körperlichen Geschlechts durch Operationen und Hormonbehandlungen im nicht zustimmungsfähigen Alter, die von Betroffenen als traumatisch erlebt werden. Seit einer Reform 2013 ist es zulässig, keinen Eintrag vorzunehmen, wenn das Neugeborene nicht eindeutig als männlich oder weiblich klassifiziert werden kann, um diese Dynamik zu vermeiden. 2018 folgte eine weitere rechtliche Reform: die Einführung eines dritten juristischen Geschlechts, genannt „divers“. Sowohl die Änderung des Personenstands im Rahmen des TSG als auch der Eintrag als „divers“ waren nur durch Bestätigung von medizinischen bzw. psychiatrischen/psychologischen Autoritäten möglich. Somit handelt es sich bei der Institution des juristischen Geschlechts lange und teilweise bis heute um eine objektivierende und fremdbestimmende gesellschaftliche Praxis. Fremdbestimmend, weil nicht die Geschlechtsidentität als das subjektiv empfundene Zugehörigkeitsgefühl zu einem (oder keinem) Geschlecht maßgeblich ist. Objektivierend, weil die Grundlage für das rechtliche Geschlecht in erster Linie das biologische Geschlecht darstellt, das nach vermeintlich objektiven Kriterien ermittelt wird. Auch im Falle von der rechtlichen Transition bei trans* Personen wird versucht, den Prozess der Bestimmung der Geschlechtsidentität durch die Begutachtung durch Expert*innen zu objektivieren.
Mit dem Inkrafttreten des sog. Selbstbestimmungsgesetzes 2024 fand zumindest in einigen Punkten ein Paradigmenwechsel statt: Es ist nun erstmals möglich, den Geschlechtseintrag ohne Gutachten und medizinische Atteste auf Basis einer Selbstauskunft ändern zu lassen. Zur Auswahl stehen die Kategorien männlich, weiblich, divers oder kein Geschlechtseintrag. Somit basiert nun das juristische Geschlecht bei der Geburt eines Menschen zunächst weiterhin auf dem vermeintlich objektiven Kriterium des biologischen Geschlechts, anhand dessen weiterhin der Eintrag in der Geburtsurkunde erfolgt. Sofern Menschen sich jedoch aufgrund einer TIN* Identität für eine Änderung entscheiden, basiert dieser Eintrag dann explizit auf der Geschlechtsidentität, unabhängig von körperlichen Gegebenheiten. Bei allen anderen endo und cis Personen hingegen wird implizit davon ausgegangen, dass das juristische Geschlecht mit dem bei der Geburt zugewiesenen übereinstimmt. Somit vermischen sich hier verschiedene Logiken der Geschlechterbestimmung. Auch wird die Selbstbestimmung in Grenzen gehalten: es gibt lediglich vier Optionen und keine Möglichkeit, einen eigenen Begriff, der die jeweilige Geschlechtsidentität passend beschreibt, zu wählen.
2023
Robin Bauer
Literatur
- Adamietz, Laura (2011): Geschlecht als Erwartung. Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität. Baden-Baden: Nomos.
- Baer, Susanne/Elsuni, Sarah (2021): Feministische Rechtstheorien. In: Hilgendorf, Eric/Joerden, Jan C. (Hrsg.): Handbuch Rechtsphilosophie. Stuttgart: Metzler, 2. Auflage, S. 296-303.
- BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16 – Rn. (1 – 69), http://www.bverfg.de/e/rs20171010_1bvr201916.html, 10.11.2017
- De Silva, Adrian (2021): Zur Entwicklung des TSG unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Debatte. https://www.gwi-boell.de/de/2021/11/10/zur-entwicklung-des-tsg-unter-beruecksichtigung-der-aktuellen-politischen-debatte, 2.12.2021.
- Mangold, Anna Katharina (2024): Das Selbstbestimmungsgesetz tritt in Kraft. Über Rechtskämpfe, die rechtliche Erfassung und Regulierung von Geschlecht und den Paradigmenwechsel von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Anna Katharina Mangold im Gespräch mit Aline Oloff. In: Feministische Studien H.2, S. 272-288.
- Plett, Konstanze (2015): Diskriminierungspotenzial gegenüber trans- und intergeschlechtlichen Menschen im deutschen Recht sowie Skizzierung von Lösungswegen zu deren Abbau und zur Stärkung der Selbstbestimmungs- und Gleichbehandlungsrechte trans- und intergeschlechtlicher Menschen. Hrsg. v. der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen Berlin.
- Plett, Konstanze (2016): Jenseits von männlich und weiblich: Der Kampf um Geschlecht im Recht. In: Paul, Barbara/Tietz, Lüder (Hrsg.): Queer as … – Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive. Bielefeld: transcript, S. 73-101.