Koloniale Kontinuität
Glossarbeitrag: Koloniale Kontinuität – Ein anhaltendes Erbe
Koloniale Kontinuität bezieht sich auf die fortdauernden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen sowie Ideologien, die aus der kolonialen Vergangenheit resultieren und bis in die Gegenwart fortwirken. Diese Kontinuitäten sind nicht nur in ehemaligen Kolonien zu finden, sondern auch in den ehemaligen Kolonialmächten, wo sie die gesellschaftlichen Normen, Werte und Machtverhältnisse beeinflussen. Achille Mbembe beschreibt in On the Postcolony (2001) die komplexen Dynamiken zwischen kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart und hebt die anhaltenden Effekte dieser Kontinuitäten hervor. Um die Vollständigkeit der kolonialen Kontinuität zu verstehen, ist es wichtig, die historischen Aspekte und Entwicklungen unter den Linsen dieser Konzepte zu betrachten.
Der Kolonialismus bezeichnet die direkte Herrschaft europäischer Mächte über kolonialisierte Gebiete. Diese Phase war geprägt von der Ausbeutung der Ressourcen, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung und der Etablierung rassistischer Ideologien. Die kolonialen Strukturen, die während dieser Zeit geschaffen wurden, haben bis heute Auswirkungen auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den ehemaligen Kolonien. Frantz Fanon thematisiert in Black Skin, White Masks (1952) die psychologischen Auswirkungen der kolonialen Unterdrückung und deren Einfluss auf die Identität.
Nach der offiziellen Unabhängigkeit in den 1960er Jahren war die Frage des Kolonialismus in vielen Kolonien immer noch aktuell. Kwame Nkrumah bezeichnet dies als Neokolonialismus, eine politische und wirtschaftliche Abhängigkeit, die auch nach dem Ende der Kolonialherrschaft fortbesteht. Der Postkolonialismus hingegen tritt als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen des Kolonialismus und seinen Folgen bereits 1947 auf. Ab Mitte der 1970er Jahre etablierte sich die kritische Infragestellung der lange positiv bewerteten Kolonialisierungsgeschichte als postkolonialistische Theorie an zentralen Universitäten. Wegweisend für diese Entwicklung war Edward Saids einflussreiches Werk Orientalism (1978), dass eine leidenschaftliche und kontroverse Debatte über den Orientalismus auslöste und als „Gründungsdokument“ des Postkolonialismus gilt, obwohl Said selbst den Begriff „Postkolonialismus“ in seinem Buch nicht verwendete. Postkolonialismus umfasst eine Reihe von historischen und gesellschaftspolitischen Prozessen sowie die Auseinandersetzung mit der Abschaffung von Kolonialreichen und der Selbst-Befreiung von Kolonien. Diese Entwicklung zeigt, dass von einem Ende des Kolonialismus nie wirklich die Rede war, denn die in dieser Zeit entstandenen Strukturen und Ideologien wirken bis in die Gegenwart hinein.
Diese Kontinuität ist in vielen Bereichen der Gesellschaft zu beobachten. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der ehemaligen Kolonien von ihren Kolonialmächten spiegelt sich in der Verwendung von Währungen wider, die an die Währungen der Kolonialmächte gekoppelt sind, wie etwa der CFA-Franc in Westafrika. Handelsabkommen, die während der Kolonialzeit etabliert wurden, begünstigen weiterhin den Export von Rohstoffen aus den ehemaligen Kolonien, was ihre wirtschaftliche Abhängigkeit verstärkt. Die politischen Systeme, die von den Kolonialherren hinterlassen wurden, fördern oft die Interessen einer kleinen Elite und marginalisieren die breite Bevölkerung. Zudem bleibt die Einflussnahme ehemaliger Kolonialmächte auf die politischen Angelegenheiten ihrer ehemaligen Kolonien bestehen, was die Souveränität dieser Staaten einschränkt.
Dominante Sprachen wie Englisch und Französisch sind weiterhin die offiziellen Sprachen in vielen ehemaligen Kolonien, was lokale Sprachen marginalisiert und die kulturelle Dominanz der Kolonialmächte verstärkt. Rassistische Ideologien aus der Kolonialzeit bestehen fort und manifestieren sich in strukturellem Rassismus und Diskriminierung. Diese Ideologien beeinflussen die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen afrikanischer Herkunft weiter.
Insgesamt ist die Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten entscheidend für das Verständnis der heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen, einschließlich Rassismus, wirtschaftlicher Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit. Die Erkenntnisse über die nachhaltigen Auswirkungen des Kolonialismus unterstreichen die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion und Reformen in den aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, um eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Dabei spielen dekoloniale Ansätze eine wichtige Rolle. Dekoloniales Denken geht davon aus, dass die heutige Weltordnung und unsere gegenwärtigen Lebensbedingungen auf den Fundamenten des europäischen Kolonialismus beruhen. Es zielt darauf ab, die bestehenden Macht- und Unterdrückungsverhältnisse, die mit kolonialen Kontinuitäten einhergingen, zu analysieren, unsichtbare und sichtbare Gewaltstrukturen offenzulegen sowie alternative Lebenskonzepte zu entwickeln und umzusetzen.
30.09.2024
Mariette Nicole Afi Amoussou (Initiative: Black Academy (www.black-academy.org))
Literatur
- Nkrumah, Kwame. Neocolonialism: The Last Stage of Imperialism. International Publishers, 1965.
- Black Academy (o. J.), https://www.black-academy.org, 30.09.2024.
- Fanon, Frantz (1952): Black Skin, White Masks. London: Pluto Press.
- Mbembe, Achille (2001): On the Postcolony. Berkeley: University of California Press.
- Sow, Noah (2008): Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus. München: C. Bertelsmann.
