Kolonialismus

Glossarbeitrag: Kolonialismus

Der Begriff Kolonialismus beschreibt grundsätzlich einen Prozess, bei dem sich ein kolonisierendes Volk das Land und die Ressourcen eines anderen Volkes zu eigen macht und es somit kolonialisiert. Prozesse dieser Art lassen sich im Laufe der gesamten Menschheitsgeschichte vorfinden. Zu den vielen Beispielen historischer Kolonialmächte zählen unter anderen das Römische Reich, das Mongolische Reich, das Aztekenreich, das Inkareich, das Vijayanagar Reich, das Osmanische Reich und das Chinesische Reich. Kolonialismen sind in ihrem Ablauf zwar keineswegs identisch, haben aber gemeinsam, dass die Beziehungen zwischen Kolonisierenden und Kolonialisierten nicht auf Augenhöhe stattfinden, sondern im Gegenteil, auf Gewalt- und Machtausübungen der Kolonisierenden auf die Kolonialisierten basieren.

Heute meinen wir mit Kolonialismus umgangssprachlich meist einen bestimmten Kolonialisierungsprozess, und zwar den „Europäischen Kolonialismus“. Er dauerte etwa 500 Jahre an, je nachdem mit welchem Start- und Endpunkt gerechnet wird. So wird die Ankunft des fälschlicherweise häufig als eine Art ‚Entdecker‘ dargestellten Christopher Columbus 1492 in den Amerikas häufig als Startpunkt markiert, während als Endpunkt oft das sogenannte „Afrikanische Jahr“ 1960, genannt wird, in dem mehrere ehemalige Kolonien ihre formelle Unabhängigkeit erreichten. Kolonisiert haben die Europäer*innen überall auf der Welt, nämlich in Afrika, in den Amerikas inklusive der Karibik, in Asien, in Australien inklusive Ozeaniens und sogar auf beiden Erdpolen, der Antarktika und der Arktik. Während die bekanntesten Kolonialisierungsprozesse jene der Kolonialmächte Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Portugal und Spanien sind, wird gerne unter den Teppich gekehrt, dass auch die Staaten des deutschsprachigen Raums, also Deutschland, Österreich und die Schweiz als Kolonialmächte gesehen werden müssen. Zu den Zielen der Europäer*innen zählten Machtsicherung und Machterweiterung im Wettbewerb miteinander, der Erhalt und die Nutzung günstiger beziehungsweise kostenloser Arbeitskraft und Ressourcen, sowie die Etablierung einer vermeintlich naturgegebenen Überlegenheit gegenüber nicht-Europäer*innen.

Wie bei historischen Kolonialismen verliefen Prozesse auch im Europäischen Kolonialismus im Vergleich keineswegs identisch. Sie unterschieden sich beispielsweise in den Fragen ob und inwiefern sich Europäer*innen in den Kolonien angesiedelt haben (Siedlerkolonialismus), ob und inwiefern Kolonien als militärische und wirtschaftliche Logistik- und Umschlagplätze dienten (Stützpunktkolonialismus), ob und inwiefern Plantagen betrieben wurden (Plantagenkolonialismus), oder ob und inwiefern der Fokus auf der Errichtung eines strategischen Herrschaftsapparates lag (Beherrschungskolonialismus).

Im Jahr 1930 galten 84,6.% der gesamten Landfläche der Welt als Kolonien oder ehemalige Kolonien Europas. Dieser Landraub begünstigte wiederum den weltweiten Ressourcenraub. Ressourcen meint hier zum Beispiel Edelmetalle, wie Gold; Mineralien und wie Kupfer oder Pflanzen, wie Tabak. Die geraubten Ressourcen nutzen die Kolonialmächte für Zwecke der Selbstbereicherung in Form von Handel, für den Konsum und für das Vorantreiben der Industrialisierung. Die annektierten Landflächen und Ressourcen standen ihnen dabei keineswegs zur freien Verfügung, sondern wurden den indigenen Bevölkerungen durch hinterlistige, gewaltsame und blutige Prozesse weggenommen. Während dieser Kolonialisierungsprozesse wurden Ökosysteme zerstört, Lebensräume und Überlebensgrundlagen indigener Menschen vernichtet und gesamte Völker ermordet.

Neben diesem zerstörerischen Raub von Territorien und Ressourcen gibt es eine Vielzahl weiterer Aspekte durch welche sich der Europäische, als ein neuer, zuvor nie dagewesener, Kolonialismus auszeichnet. All diese Aspekte kulminieren in der Tatsache, dass der Europäische Kolonialismus maßgeblich zur Entstehung, Verbreitung und Festigung des Europäischen Kapitalismus beitrug. Die europäischen Kolonisator*innen verfolgten längst keine ‚simple‘ Aneignung von Territorium und Ressourcen mehr, sondern zusätzlich eine Unterwerfung, Ausbeutung und Kommodifizierung von nicht-europäisch / nicht-weiß markierten Menschen, wie auch eine totale Umstrukturierung wirtschaftlicher Systeme in der gesamten Welt. Das berühmteste Beispiel für die Kommodifizierung Schwarzer Menschen, stellt der Transatlantischen Sklav*innenhandel dar. Es ist das größte Sklav*innenhandelssystem der Menschheitsgeschichte, durch welches den Vereinten Nationen zufolge etwa 15 Millionen Erwachsene und Kinder über den Atlantik verschleppt wurden.

Tupoka Ogette stellt in ihrem Werk exitRACISM fest: „Die Europäer waren nicht zu Sklavenhändlern geworden, weil sie Rassisten waren. Andersherum wird ein Schuh draus. Sie wurden Rassisten, um Menschen für ihren eigenen Profit versklaven zu können.“ (S. 33). Anti-Schwarzer und Anti-indigener Rassismus gelten als Legitimationsdoktrin für die im Kontext des Europäischen Kolonialismus begangenen Gräueltaten und Entmenschlichungen. Dieser sogenannte Kolonialrassismus äußerte sich nicht nur in physischen Formen der Gewalt, sondern auch in psychischen (wie etwa der sogenannte Bleistifttest, der im Südafrika der Apartheid angewandt wurde) und kulturellen (wie etwa die systematische Auslöschung indigener Wissenssysteme sowie etwa Sprachen). Insgesamt war es das Ziel, die Autonomie, Selbstbestimmung und das Selbstbewusstsein der kolonisierten Menschen zu untergraben.

Dabei stellt das dem Rassismus unterliegende Macht- und Unterdrückungssystem, die weiß-christliche Vorherrschaft, keineswegs den einzige Unterwerfungs-, Ausbeutungs-, und Kommodifizierungsmechanismus dar, der den Europäischen Kolonialismus maßgeblich vorangetrieben hat. Die europäischen Kolonialmächte propagierten nämlich nicht nur rassistische, sondern unter anderem auch ableistische und patriarchale Ideale und Normen zur Unterwerfung, Ausbeutung und Kommodifizierung von Menschenleben. Eine große Rolle in der Verbreitung dieser strukturell diskriminierenden Ideologien spielte zudem die katholische Kirche. Auf der einen Seite wurde Menschen mit Behinderungen zum Beispiel das Existenzrecht abgesprochen und auf der anderen Seite wurden cisnormative und heteronormative Ideologien verbreitet und gefestigt. Auch wurden die Körper von Menschen mit Behinderungen und jenen die als Frauen gesehen wurden an ihren vermeintlichen Reproduktions- und Produktionswerten für das koloniale Projekt gemessen, was aufgrund der Zuschreibungen von Minderwertigkeit jeweils zu Morden oder Vergewaltigungen führte. Das systematische Einschüchtern und Foltern, das strukturelle Einschränken von Mobilität, das taktische Entwerten von Körpern und das Absprechen von Existenzrechten aufgrund vermeintlich inhärenter Minderwertigkeiten stellen koloniale Praktiken da, von welchen bis zum heutigen Tag noch Gebrauch gemacht wird, beispielsweise im israelischen Siedlerkolonialismus mitsamt seiner politischen und militärischen Unterstützung europäischer Kolonialmächte. Zusammengefasst basiert der Europäische Kolonialismus also nicht nur physischer Unterwerfung, Ausbeutung und Kommodifizierung, sondern auch auf psychischer sowie kultureller.

Nicht nur im soeben genannten Beispiel Israel werden die in diesem Glossarbeitrag beschriebenen Unterwerfungs-, Ausbeutungs-, und Kommodifizierungsmechanismen des Europäischen Kolonialismus aufrechterhalten. Sie zeigen sich als koloniale Kontinuitäten unter anderem auch darin, dass ehemals kolonialisierte Menschen und Staaten nach wie vor ökonomisch ausgebeutet und abhängig sowie politisch fremdbestimmt und instabil sind und auf struktureller Ebene rassistisch diskriminiert werden. Sie erfahren kontinuierlichen Land- und Ressourcenraub und leiden aufgrund des im Kontext des Europäischen Kolonialismus verursachten ökologischen Ungleichgewichts unter den härtesten Auswirkungen der Klimakrise. Sie sind vermehrt in gesellschaftlich mehrfachmarginalisierten Positionen oder in anderen Worten, von intersektionaler Diskriminierung betroffen und dadurch Lebensgefahren ausgesetzt, etwa aufgrund von Erzählungen kolonial-ableistisch-rassistischer Art die sich als medical racism oder Medizinische Rassismen manifestieren. Sie kämpfen nach wie vor für die Dekolonialisierung ihrer Landflächen, Ressourcen, Körper und Geister. Sowie für die Erschaffung und Förderung von Autonomie, Selbstermächtigung und Selbstbestimmung der ehemals kolonialisierten Landflächen, Ressourcen, Körper und Geister.

Ein kleiner Einblick in die Europäischen Kolonialismen des deutschsprachigen Raums zur Vertiefung:

  • Deutschland besaß mehrere Kolonien in Afrika und Asien, darunter große Teile des heutigen Namibia wo von 1904 – 1908 der Völkermord an den OvaHerero und Nama begangen wurde. Eine Gräueltat die Deutschland erst über 100 Jahre später im Jahr 2021 in Form eines Aussöhnungsabkommens mit Namibia anerkannte. Obwohl dieses Abkommen von Seiten der Regierungen Deutschlands und Namibias als Erfolg gefeiert wurde, werden das Aussöhnungsabkommen und sein Entstehungsprozess von Aktivist*innen und Vertreter*innen der OvaHerero und Nama weiterhin stark auf seine Mängel kritisiert, beispielsweise aufgrund der nicht-Einbeziehung in den staatlichen Aussöhnungsprozess und der fehlenden Bereitschaft für Reparationen. Dass diese und andere Aspekte der Kolonialmacht Deutschlands nach wie vor für einen Großteil der Gesellschaft unsichtbar bleiben, stellt die Erinnerungspolitik, mit der sich der deutsche Staat so gerne profiliert, in einen düsteren Schatten.
  • Der Kolonialismus der Österreichisch-Ungarischen-Monarchie wird wegen der gescheiterten Expansionsfantasien als ein ‚Kolonialismus ohne Kolonien‘ beschrieben und heruntergespielt. Österreich darf deswegen jedoch keineswegs weniger als Kolonialmacht gesehen werden. Denn es gründete koloniale Handelsgesellschaften, errichtete Stützpunkte – etwa in Indien und Mosambik, beteiligte sich am Transatlantischen Sklav*innenhandel und unterstützte andere europäische Mächte in ihren kolonialen Gräueltaten diplomatisch sowie militärisch. Darüber hinaus spielten österreichische Privatpersonen eine Schlüsselrolle in informellen Kolonialisierungsprozessen, indem sie beispielsweise sogenannte Expeditionen durchführten oder Missionierungsreisen beschritten. Österreichische Museen, sowie Museen überall in Europa, sind trotz wiederholter Restitutionsforderungen, befüllt mit sogenannten kolonialen Raubgegenständen. Also ethnografische und anthropologische Objekte, die im Kontext kolonialer und gewaltsamer Praktiken von ihren Ursprungsorten entrissen wurden und dieserorts einer verzerrten und exotisierenden Darstellung ehemals kolonisierter Regionen dienen.
  • Auch die Schweiz, wiegt sich gerne in der Ausrede eines ‚Kolonialismus ohne Kolonien‘ obwohl ihre Wirtschaft eng mit dem Europäischen Kolonialismus verflochten ist. Ähnlich wie es in Österreich der Fall war, gründete auch die Schweiz koloniale Handelsgesellschaften – wie Volkart oder die Baseler Missions-Handlungs-Gesellschaft, beteiligte sich ebenfalls am Transatlantischen Sklav*innenhandel, unterstützte andere Kolonialmächte militärisch durch Söldnertruppen und brachte auch Privatpersonen mit Kolonialkarrieren hervor. Heute schmückt sich die Schweiz gerne mit ihrer Schokoladenindustrie, die nur aufgrund des, wenn auch nur informellen, Schweizer Kolonialismus existiert. Sie baut nämlich auf dem Raub von Ressourcen für die Rohmaterialien – also den Kakao, der Ausbeutung von Schwarzer Arbeitskraft für die Produktion und der Exotisierung Schwarzer Körper für die Vermarktung.

 

Schlusswort der Autorin: Colonized Peoples‘ Lives Matter.

2024
Camila Schmid Iglesias (sie/ihr)
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Literatur: