‚Migrationshintergrund‘

Genese des Begriffs: Eine politische Konstruktion

Der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ tauchte erstmals 1998 im Zehnten Kinder- und Jugendbericht auf und wird der Erziehungswissenschaftlerin Ursula Boos-Nünning zugeschrieben (Will, 2024). Bereits in den 1990er Jahren fand er Verwendung in gesellschaftlichen und politischen Debatten, um Menschen mit familiärer Migrationserfahrung statistisch zu erfassen.

Im historischen Kontext der 1990er Jahre spielte das Ankommen von Millionen Spätaussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion eine zentrale Rolle. Obwohl Spätaussiedler*innen rechtlich als Deutsche gelten, wurden sie oft als eigene Gruppe behandelt. Dies zeigt, wie Kategorien wie ‚Migrationshintergrund‘ historisch und sozialpolitisch konstruiert wurden, ohne eine klare Definition zu haben. Der Begriff diente primär der Differenzierung, insbesondere in Berichten zur Jugendkriminalität (Bergen & Tefke, 2011; Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention, 2002).

Vor der Einführung des Begriffs ‚Migrationshintergrund‘ existierten in Deutschland verschiedene Kategorisierungen von migrierten Personen, die die Erfassung und Bewertung von Bewegung prägten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde Migration prominent durch das Gastarbeitsregime strukturiert, das in den 1950er Jahren begann.

Im Gegensatz dazu organisierte die Deutsche Demokratische Republik (DDR) Migration durch Vertragsarbeit. Hierbei wurden Arbeiter*innen aus sozialistischen ‚Bruderstaaten‘ wie Vietnam und Mosambik angeworben, die ebenfalls nur begrenzte Aufenthaltszeiten hatten. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands gerieten Vertragsarbeiter*innen in eine rechtliche und soziale Grauzone, da ihre Aufenthaltsrechte oft nicht eindeutig geklärt waren. Vor allem Vertragsarbeiter*innen und ihre Nachfahren fallen im bundesdeutschen Ost-West-Gefälle unter und spielen der Gastarbeit und anderen Migrationserfahrungen eine nachgeordnete Rolle im gesellschaftlichen Erinnern (Lierke & Perinelli, 2020).

Nach 2000 verkomplizierten neue Flucht- und Migrationsbewegungen das Verständnis und die Erfassung von Migration zusätzlich. Die Zuwanderung von Geflüchteten, insbesondere nach 2015, sowie die Mobilität innerhalb der Europäischen Union führten dazu, dass unterschiedliche Migrationserfahrungen und -status in einer einheitlichen Kategorie wie ‚Migrationshintergrund‘ schwer werden können. Diese Vereinheitlichung wird von vielen Forschenden als problematisch angesehen, da sie die Heterogenität der Migrationsgeschichte in Deutschland unsichtbar macht (El-Mafaalani, 2017; Kemper, 2010). Sie reiht sich in einen bundesdeutschen post-shoa Duktus, in dem nicht über Rasse oder Ethnizität gesprochen wird, wenngleich Rassifizierungsverhältnisse wirksam sind.

Herausforderungen der Definition und Anwendung

Der Begriff wird in Wissenschaft, Politik und Statistik unterschiedlich genutzt. Perchinig (1990) zeigt auf, dass ‚Migrationshintergrund‘ soziale Realitäten homogenisiert und dennoch als Differenzkategorie fungiert, um politische und gesellschaftliche Diskurse zu strukturieren. Die Kategorie umfasst Personen mit völlig unterschiedlichen sozialen Positionen – von sogenannten Expats bis hin zu Geflüchteten. Dies verdeutlicht die Spannungen zwischen theoretischer Konstruktion und empirischer Anwendung.

Im Bildungssystem wird die Problematik besonders deutlich: Kemper (2010) weist darauf hin, dass Bundesländer verschiedene Indikatoren verwenden, um Migration zu erfassen – etwa Staatsangehörigkeit, Geburtsland oder Familiensprache. Diese Uneinheitlichkeit führt zu schwer vergleichbaren Daten und unterschiedlichen politischen Maßnahmen. El-Mafaalani (2017) kritisiert zudem, dass die Kategorie spezifische Diskriminierungsrisiken wie Hautfarbe, Religion oder ethnische Zugehörigkeit verschleiert.

Gesellschaftliche Debatten und die Aufnahme in den Mikrozensus

Die Debatten der 1990er Jahre mündeten in die Einführung des Begriffs ‚Migrationshintergrund‘ in den Mikrozensus 2005. Ziel war es, Menschen mit mindestens einem Elternteil ohne deutsche Staatsangehörigkeit statistisch zu erfassen. Dies sollte die Vergleichbarkeit fördern, führte jedoch zu weiteren Problemen: Der Begriff reduzierte komplexe Lebensrealitäten auf eine einzige Kategorie und wurde zur Grundlage politischer Maßnahmen, die die strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit oft außer Acht ließen (Perchinig, 1990; El-Mafaalani, 2017).

Bildungspolitische Implikationen

In der Bildungspolitik wird ‚Migrationshintergrund‘ oft unkritisch genutzt. Akbaba et al. (2013) zeigen, dass Lehrkräfte mit Migrationshintergrund stereotype Erwartungen erfüllen sollen, wie etwa eine besondere Nähe zu Schüler*innen mit ähnlichem Hintergrund. Diese Annahmen sind empirisch nicht haltbar und führen zu Essentialisierungen. Scarvaglieri und Zech (2013) kritisieren zudem, dass der Begriff in öffentlichen Diskursen zur Abgrenzung zwischen ‘normalen Deutschen’ und ‘den Anderen’ verwendet wird. Dies erschwert eine präzise Analyse sozialer Ungleichheit und externalisiert Probleme wie Armut oder Rassismus.

Rechtliche Implikationen und Intersektionalität

Markard (2009) hebt hervor, dass ‚Migrationshintergrund‘ in juristischen Analysen oft nicht ausreicht, um Diskriminierungen entlang multipler Achsen wie Geschlecht, ethnische Herkunft oder Religion zu erfassen. Ein intersektionaler Ansatz fehlt häufig, was dazu führt, dass Diskriminierung nicht ausreichend sichtbar wird. Die Konstruktion von ‚Migrationshintergrund‘ zeigt, wie rechtliche und gesellschaftliche Machtverhältnisse durch scheinbar neutrale Kategorien reproduziert werden.

Ein Beispiel hierfür ist der Umgang mit rassistischen Anschlägen, wie dem Bombenanschlag in Düsseldorf 2000. Obwohl russischsprachige Juden und Spätaussiedler*innen das Ziel waren, wurden die Ermittlungen nicht in Richtung rassistischer Motive geführt. Die Verwendung des Begriffs ‚Migrationshintergrund‘ im juristischen Kontext kann solche Ausschlüsse verstärken, indem er strukturelle und rechtliche Diskriminierungen verschleiert (NSU Watch, 2018).

Subversives Potenzial: Migrantische Kämpfe

Trotz seiner problematischen Aspekte zeigt der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ auch ein subversives Potenzial. Bewegungen wie Migrantifa nutzen ihn, um politische Sichtbarkeit und Empowerment zu fördern. Shukrallah (2020) beschreibt, wie migrantische Kämpfe die Kategorie strategisch aneignen, um Rassismus und soziale Ungleichheit sichtbar zu machen. Stjepandić (2022) zeigt, dass die postmigrantische Mobilisierung nach dem Anschlag in Hanau nicht nur Solidarität schuf, sondern auch die Selbstermächtigung migrantischer Gemeinschaften stärkte.

Popkulturelle Debatten

In der deutschen Internetkultur wurde der Begriff während der Corona-Pandemie reflektiert, etwa durch die Analogie “Deutsche mit Nazihintergrund” (Die Zeit, 2021). Solche Diskussionen verdeutlichen, wie der Begriff gesellschaftliche Machtverhältnisse aufzeigt und reproduziert. Gleichzeitig wird die Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ durch solche Debatten kritisch hinterfragt.

Fazit: Eine notwendige Reflexion‚ Migrationshintergrund‘ ist eine statistische und politische Konstruktion, die problematische Fremdzuschreibungen enthält und soziale Realitäten homogenisiert. Dennoch birgt er Potenzial, um gesellschaftliche Machtverhältnisse sichtbar zu machen, insbesondere durch seine Aneignung in migrantischen Kämpfen. Für eine gerechtere Analyse und Politik ist eine intersektionale und differenzierte Betrachtung notwendig, die die Heterogenität von Migrationserfahrungen berücksichtigt.

 

2024
Daniel Heinz

Literatur

  • Akbaba, Yeliz/Gräsel, Cornelia/Herwartz-Emden, Leonie (2013): Erwartungen und Zuschreibungen: Eine Analyse und kritische Reflexion der bildungspolitischen Debatte zu Lehrer*innen mit Migrationshintergrund. [Publikationsort]: [Verlag].
    Hinweis: Da “ResearchGate” nur eine Plattform zum Teilen von wissenschaftlichen Arbeiten ist, sollten hier der tatsächliche Veröffentlichungsort und Verlag eingefügt werden.
  • Die Zeit (2021): Es geht uns nicht um Boykott, sondern um Transparenz.
    https://www.zeit.de/zett/politik/2021-03/ns-familiengeschichte-instagram-diskussion-nazihintergrund-moshtari-hilal-sinthujan-varatharajah, abgerufen am 25.11.2024.
  • El-Mafaalani, Aladin (2016): Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund. In: Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/Yüksel, Ebru Gökcen (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kemper, Thomas (2010): Migrationshintergrund – eine Frage der Definition! In: Zeitschrift für Bildungsforschung, 3. Jg., H. 2, S. 123–140.
  • Markard, Nora (2009): Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im Recht. In: Kritische Justiz, 42. Jg., H. 4, S. 353–364.
  • Perchinig, Bernhard (2011): Migrationshintergrund als Differenzkategorie. Vom notwendigen Konflikt zwischen Theorie und Empirie in der Migrationsforschung. In: Polak, Regina et al. (Hrsg.): Europäische Wertestudie 2008–2010. Österreich im Europäischen Kontext. Wien: Böhlau, S. 283–323.
  • Scarvaglieri, Claudio/Zech, Claudia (2013): Ganz normale Jugendliche, allerdings meist mit Migrationshintergrund. Eine funktional-semantische Analyse von „Migrationshintergrund“. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik, 58, S. 201–227.
  • Shukrallah, Taher (2020): Von Kämpfen lernen. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung.
  • Stjepandić, Kristina (2022): Hanau ist überall: Der Aufbau von Solidaritätsnetzwerken nach den rassistischen Anschlägen in Hanau. Baden-Baden: Nomos.
  • Will, Anne-Kathrin (2024): Migrationshintergrund. In: Inventar der Migrationsbegriffe. Ein Projekt der interdisziplinären Forschungsgruppe „Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration“, Universität Osnabrück, S. 1.
  • Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2020): Migration und Kriminalität: Erfahrungen und neuere Entwicklungen. In: Dossier Innere Sicherheit.
    https://www.bpb.de/themen/innere-sicherheit/dossier-innere-sicherheit/301624/migration-und-kriminalitaet-erfahrungen-und-neuere-entwicklungen/, abgerufen am 20.11.2024.
  • Mediendienst Integration (2024): Die wichtigsten Fragen zur „Ausländerkriminalität“.
    https://mediendienst-integration.de/artikel/die-wichtigsten-fragen-zur-auslaenderkriminalitaet.html, abgerufen am 20.11.2024.
  • Die Zeit (2021): NS-Familiengeschichte: Instagram-Diskussion über Nazihintergrund von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah.
    https://www.zeit.de/zett/politik/2021-03/ns-familiengeschichte-instagram-diskussion-nazihintergrund-moshtari-hilal-sinthujan-varatharajah, abgerufen am 23.03.2021.
  • Lierke, Lydia/Perinelli, Massimo (Hrsg.) (2020): Erinnern stören: Der Mauerfall aus migrantischer und dekolonialer Perspektive. Neu-Ulm: Neue Impulse Verlag.
    https://www.neue-impulse-verlag.de/shop/item/9783957324511/erinnern-storen-von-lydia-lierke-massimo-perinelli-kartoniertes-buch#, abgerufen am 25.11.2024.