Multikulturalismus
Als eine multikulturelle Gesellschaft wird eine Gesellschaft bezeichnet, die aus mehreren Kulturen besteht. Multikulturalismus hingegen ist eine normative Theorie, die Gleichberechtigung zwischen den verschiedenen Kulturen innerhalb einer Gesellschaft fordert. Multikulturalismus ist in diesem Sinne ein Vorschlag wie man mit mehreren Kulturen innerhalb einer Gesellschaft umgehen soll und bietet ein Pendant zum Begriff „Leitkultur“, bei der eine Kultur anderen übergeordnet ist.
Eine multikulturelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der zwei oder mehr Kulturen leben. Kulturelle Vielfalt bedeutet, dass diese Gruppen unterschiedliche Werte, Überzeugungen, Praktiken und Lebensstile haben. Auch schon vor Jahrhunderten bestanden viele Reiche und Staaten aus mehreren Kulturen, in denen diese oft ein autonomes Leben mit großer kultureller Freiheit, aber kaum politischer Macht führten. Heutzutage jedoch können die kulturellen Gemeinschaften, aus denen sich die Nationalstaaten zusammensetzen, kein isoliertes Leben führen. Sie sind aufgrund der Dynamik der modernen Wirtschaft in komplexe Interaktionsmuster untereinander und mit der breiteren Gesellschaft verbunden. Heutige Gesellschaften können sehr unterschiedliche Herangehensweisen an die Tatsache der kulturellen Vielfalt haben. Beispielsweise können sie versuchen, alle Kulturen in die vorherrschende Kultur zu assimilieren (anzupassen). Im Gegensatz dazu können sie auch Unterschiede wertschätzen, diese als integralen Bestandteil und an sich wertvoll für die Gesellschaft betrachten. Letzteres wird als Multikulturalismus bezeichnet und stellt eine normative Reaktion auf multikulturelle Gesellschaften dar. Im Kontext des Multikulturalismus kann Gleichberechtigung als das Recht auf individuelle Autonomie (ein Leben nach den eigenen Überzeugungen und Vorstellungen) und Entscheidungsfreiheit (ohne Angst vor Strafe) verstanden werden.
Ein Verfechter des Multikulturalismus, Kymlicka, argumentiert, dass Autonomie eine notwendige Voraussetzung für ein gutes Leben ist und dass alle Menschen in der Lage sein sollten, ein gutes Leben zu führen. Daher kann die Unterlegenheit bestimmter Gruppen nicht hingenommen werden, sondern sollten für alle die gleichen politischen Rechte und die Teilnahme an der Gestaltung des kulturellen Lebens der Gesellschaft gewährleistet sein. Außerdem hat die Kultur einen starken Einfluss auf das psychische Wohlbefinden der Menschen. Da das Selbstwertgefühl stark mit der Anerkennung von anderen abhängt, sollten kulturelle Praktiken von Minderheiten nicht abgewertet werden. Nach Kymlicka bietet Kultur ein Gefühl von Zweck, Identität und Zugehörigkeit. Parekh, ein weiterer Unterstützer des Multikulturalismus, bezeichnet Kultur als eine politisch wichtige Kategorie: er argumentiert, dass die Achtung der Kultur eines Individuums ein integraler Bestandteil des Grundsatzes der gleichen Staatsbürgerschaft ist. Kultur (einschließlich des Gefühls der kulturellen Zugehörigkeit), Autonomie, und Gleichberechtigung sind eng miteinander verknüpft.
Wenn über Multikulturalismus diskutiert wird, geht es oft um die Frage: Wer gehört dazu? Also, wer wird als Teil des Nationalstaates gesehen und darf auch Leistungen des Sozialstaats beziehen. Wohlfahrts- oder Sozialstaaten setzen sich zum Ziel soziale Gerechtigkeit umzusetzen, sodass jeder Mensch die gleichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte und Chancen erhält. (Wobei jedoch zu beachten ist, dass Wohlfahrtsstaaten nicht immer in diesem Sinne konzipiert sind und auch soziale Ungleichheiten verstärken können). Jedoch werden die Leistungen des Wohlfahrtsstaates nicht auf diejenigen ausgedehnt, die nicht Teil des Nationalstaates sind. Es wirkt einleuchtend, dass beispielsweise Tourist*innen keine Arbeitslosenunterstützung erhalten. Der Ausschluss bestimmter Gruppen vom Wohlfahrtsstaat kann jedoch auch problematisch sein, da er soziale Hierarchien etablieren und Ungleichheiten verstärken kann. Das birgt große Risiken für diejenigen, die nicht als Teil der Nation angesehen werden, wie z. B. Migrant*innen. Dieser Ausschluss wird in der Regel durch rassistische Ideologien oder Ideologien der kulturellen Rückständigkeit untermauert und gerechtfertigt. Das bedeutet, dass in der öffentlichen Wahrnehmung nicht die faktische Staatsbürgerschaft, sondern auf Ethnie und Kultur basierende Wahrnehmungen ein Zugehörigkeitsgefühl schaffen, das (Nicht-)Zugehörigkeit rechtfertigt. Migrant*innen sind mit sozialer Stigmatisierung und Rassifizierung konfrontiert und haben laut Kymlicka bestenfalls die Wahl zwischen Assimilation und Ausgrenzung. Die derzeitige strukturelle Ungleichbehandlung verhindert, dass Migrant*innen den gleichen Zugang zum Wohlfahrtsstaat haben, was bedeutet, dass sie nicht in gleichem Maße Gesundheits- und Bildungsleistungen in Anspruch nehmen können. Daraus ergibt sich ein Paradoxon, bei dem die Nationalität die Grundlage für einen umverteilenden Wohlfahrtsstaat bildet und gleichzeitig eine Hierarchie zwischen sozialen Gruppen schafft. Vertreter*innen des Multikulturalismus wollen dem durch die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Kulturen innerhalb der Gesellschaft entgegen wirken. Kymlicka befindet Inklusion und Solidarität für notwendige Bedingungen für einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat. Mit dem Konzept der nationalen Solidarität setzt sich er für eine Form des Multikulturalismus ein, die es Einwanderern ermöglicht, ihre Kultur und Identität als Formen der Teilnahme und des Beitrags zur nationalen Gesellschaft auszudrücken.
Anhänger*innen des Multikulturalismus fordern häufig auch die Verankerung von Gesetzen, um die Gleichberechtigung der verschiedenen Kulturen zu sichern. Außerdem soll mit Hilfe von Sonderrechten bestimmten Gruppen kulturelle Praktiken ermöglicht werden. In Großbritannien zum Beispiel sind Turban tragende Sikhs von der Helmpflicht am Arbeitsplatz (mit Ausnahmen) entbunden. Eine Klage auch in Deutschland um Sikhs von der Helmpflicht im motorisierten Straßenverkehr zu entbinden ist 2013 vom Verfassungsgericht abgelehnt worden. Ein anderes Beispiel für das Anfragen von Sonderrechte ist die Ermöglichung des Betens in der Schule für muslimische Kinder, was in der Vergangenheit zu hitzigen Debatten geführt hat.
Kritiker*innen der Theorie des Multikulturalismus sorgen sich um die Rechte und Lebensbedingungen von Minderheiten innerhalb kultureller Gemeinschaften, wenn diese über Sonderrechte oder völlige Autonomie verfügen. Innerhalb von Gesellschaften gibt es nicht nur Ungleichheiten und soziale Hierarchien zwischen kulturellen Gemeinschaften, sondern auch innerhalb der kulturellen Gemeinschaften. Diese beziehen sich häufig auf Geschlecht, Heteronormativität, oder Religionszugehörigkeit. Wer eine kulturelle Gemeinschaft im öffentlichen Raum einer Gesellschaft vertreten darf und gehört wird, ist abhängig von Machtstrukturen. Wichtig an dieser Stelle ist der Begriff der Intersektionalität, da es Mehrfachdiskriminierungen den Betroffenen besonders erschweren Ihre Forderungen geltend zu machen. Außerdem werden Betroffene von Mehrfachdiskriminierungen von der Mehrheitsgesellschaft häufig nicht als repräsentativ für ihre kulturelle Gemeinschaft betrachtet, privilegierte Personen jedoch schon. Okin fordert zum Beispiel, dass ein multikulturelles Gesellschaftsmodell auch die Stimmen der weniger mächtigen Gruppenangehörigen miteinbeziehen muss. Die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen wird häufig als integraler Teil einer Kultur betrachtet. Wenn diese Rollenverteilung Frauen strukturell benachteiligt, entsteht ein Konflikt zwischen der Gleichberechtigung von Kulturen untereinander und der individuellen Rechte von Minderheiten. Insbesondere Frauen und queere Personen können durch Sonderrechte Schaden nehmen, wenn diese patriarchale Strukturen untermauern (dazu zählen das Erlauben von polygamen Ehen, Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Kinderehen).
23.08.2024
Miriam Schröder
Literatur:
- Kymlicka, Will. 2015. “Solidarity in Diverse Societies: Beyond Neoliberal Multiculturalism and Welfare Chauvinism.” Comparative Migration Studies 3 (17): 1–19. In: Okin, Susan Moller; Cohen, Joshua; Matthew, Howard, Nussbaum, Marta C. 1999. Is Multiculturalism Bad for Women? Princeton: Princeton University Press. 9-24.
- Okin, Susan Moller 2002. “’Mistresses of Their Own Destiny’: Group Rights, Gender, and Realistic Rights of Exit.” Ethics 112 (2): 205–30.
- Parekh, Bhikhu C. 2006. Rethinking Multiculturalism: Cultural Diversity and Political Theory. 2nd ed. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
- Taras, Raymotarasnd. 2012. Challenging Multiculturalism: European Models of Diversity. Edinburgh: Edinburgh University Press.