Passing (Trans*)

Der Begriff Passing kommt aus dem Englischen to pass (Deutsch: vorübergehen, durchgehen, durchqueren). Im US-amerikanischen Kontext wird dieser Begriff für diverse soziale Phänomene verwendet, die gemeinsam haben, dass eine Person in der Öffentlichkeit ein bestimmtes Merkmal verbergen kann bzw. anders wahrgenommen wird (z.B. eine afroamerikanische Person „geht als weiß durch“). Der Gebrauch im Kontext Geschlecht geht auf den Soziologen Garfinkel zurück, der in seiner einflussreichen Agnes-Studie analysierte, wie es einer Person („Agnes“), die bei der Geburt als männlich zugewiesen und als Junge/Mann sozialisiert wurde, gelang, in der Öffentlichkeit als Frau wahrgenommen zu werden und somit entsprechend ihrer Geschlechtsidentität als Frau durchzugehen. In der Geschichtsschreibung sind zudem zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen es vor allem cis Frauen gelang, als Mann durchzugehen und so z.B. Berufe auszuüben, die Frauen in der Zeit nicht zugänglich waren.

Allgemein wird heute von Passing im trans* Kontext immer dann gesprochen, wenn eine trans* Person in ihrer Geschlechtsidentität/im „Zielgeschlecht“ so durchgeht, dass in Interaktionen anderen die Transidentität nicht auffällt, also z.B. eine trans* Frau als cis Frau wahrgenommen wird. Früher war Passing ein von außen auferlegtes Ziel der medizinischen Transition, die erst als erfolgreich abgeschlossen galt, wenn ein Passing erreicht wurde. Die Transgender-Aktivistin Sandy Stone kritisierte dieses Ziel scharf, da Passing u.a. bedeutet, dass die Transidentität geheim gehalten werden muss, was erstens negative psychologische Konsequenzen für das Individuum nach sich ziehen kann, da dies zur Isolation führen kann. Zweitens wurde nach Stone so die Entwicklung einer politischen Transgender-Bewegung verhindert, da trans* Personen nach erfolgreicher Transition voneinander isoliert versteckt lebten. Stone rief daher in ihrem „post-transsexuellen Manifest“ dazu auf, auch nach einer medizinischen Transition offen als trans* zu leben, so als Gruppe sichtbar zu werden, sich zu organisieren und die Norm der Zweigeschlechtlichkeit zu hinterfragen.

Passing ist von vielen trans* Personen jedoch nach wie vor insofern ein Ziel, als dadurch erstens die eigene Identität bestätigt werden kann und es zweitens zu weniger Irritation, Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund des trans* Status kommt, wenn dieser im Alltag nicht sichtbar ist. Trans* Personen, die im Alltag passen und ihren trans* Status nicht offenbaren, werden in der Community auch als „stealth“ bezeichnet.

Passing führt dabei teilweise zu einer Hierarchie unter trans* Personen, da ein Passing häufig als eine besonders erfolgreiche Darstellung des eigenen Geschlechts bewertet wird. Dabei ist jedoch zu beachten, dass ein erfolgreiches Passing auch von den körperlichen Ausgangsbedingungen und gesellschaftlichen Lesarten von Geschlecht abhängt (so ist es z.B. für trans* Frauen, die später im Leben mit einer medizinischen Transition beginnen, deutlich schwieriger zu passen als für trans* Männer oder trans* Personen, die z.B. mithilfe von Hormonblockern die Pubertät gar nicht erst durchlaufen haben). Zudem gibt es kulturelle und kontextabhängige Unterschiede, was die Wahrnehmung von Geschlecht angeht. Somit haben trans* Personen nicht unbedingt die Kontrolle darüber, wie sie wahrgenommen werden und ob sie in ihrem Zielgeschlecht „durchgehen“. Menschen mit sichtbaren Behinderungen fallen in der Öffentlichkeit ohnehin als „besondere Körper“ auf, was teilweise ein Passing erschweren kann. Auch Angewiesenheit auf Pflege, die teilweise stark in die Intimsphäre eingreifen, dürfte ein Verbergen eines trans* Körpers schwierig machen und die Offenlegung des eigenen trans* Status teilweise erzwingen.

Statt ein Passing als Maßstab aller Dinge zu setzen, wäre es daher wichtig, dass trans* Personen unabhängig vom Passing oder dem Erfüllen von geschlechterstereotypen Schönheitsidealen in ihrer Geschlechtsidentität akzeptiert werden und in Würde leben können. Denn nicht zu passen und somit sichtbar trans* zu sein wird nur dann zum Problem, wenn Trans*sein gesellschaftlich negativ bewertet wird.

 

2023
Robin Bauer

Literatur

  • Garfinkel, Harold (2020/1967): “Durchkommen” (passing) und erfolgreicher Erwerb eines Geschlechtsstatus durch eine „zwischengeschlechtliche“ Person – Teil 1. In: Ders., Studien zur Ethnomethodologie. Frankfurt/New York: Campus, S. 177-284.
  • Stone, Sandy (1991): The Empire strikes back. A posstranssexual Manifesto. In: Epstein, Julia & Kristina Straub (Hrsg.): Body Guards. The Cultural Politics of Gender Ambiguity. New York: Routledge, S. 280-304.