Pathologisierung
Der Begriff „Pathologie“ stammt aus dem Griechischen und kann wörtlich als die Lehre vom Leiden (gr. „pathos“) übersetzt werden. Im engeren Sinne geht es bei diesem medizinischen Fachbegriff um die Lehre von Krankheiten. Davon abgeleitet beschreibt der Begriff „Pathologisierung“ einen Prozess, mit dem etwas (ein Merkmal, ein Phänomen, eine Identität oder eine Praxis) zu einer Krankheit gemacht wird. Es geht dabei also um die soziale Konstruktion von Verhaltensweisen oder Personen als abweichend von der Norm, als „gestört“, als „krank“. Pathologisierung wird dabei als Begriff nur dann verwendet, wenn ein solcher Prozess der Definition als Krankheit als problematisch, unzutreffend oder fragwürdig kritisiert werden soll. So wird der Prozess der Diagnosestellung bei einer Krebserkrankung z.B. nicht als „Pathologisierung“ verstanden bzw. in der Regel nicht problematisiert, weil die Diagnose hier eine wichtige Funktion für die Behandlung erfüllt (auch wenn die Deutung als medizinisches Phänomen sicherlich auch in diesem Fall historisch und kulturell spezifisch ist). Bei der Deutung von Homosexualität, Trans* oder Intergeschlechtlichkeit als Krankheit hingegen spricht man z.B. von Pathologisierung, weil das Verhalten, die Identität bzw. die Körper dahinter an sich keinen Krankheitswert aufweisen, sondern es sich bei der Sichtweise auf diese Phänomene als Krankheit um eine kulturell bedingte Abwertung bestimmter Menschen, Beziehungen oder Praxen handelt. Diese Abwertung basiert also nicht auf einem tatsächlich behandlungsbedürftigen Merkmal, sondern auf gesellschaftlichen Normen wie der z.B. der Vorstellung, dass es nur zwei Geschlechter gebe oder nur Heterosexualität natürlich sei.
Die Pathologisierung selbst ist zu unterscheiden von der dadurch möglicherweise ausgelösten Stigmatisierung aufgrund der Sichtweise einer Person als „gestört“ oder „krank“. Ein Verständnis bestimmter Individuen oder deren Praxen/Beziehungen als krank/gestört kann zum Stigma werden, wenn insbesondere psychische Krankheiten/Störungen in einer Kultur negativ behaftet sind, weil sie u.a. mit Schwäche, unmoralischem Verhalten, schlechtem Charakter usw. verbunden werden. Weil historisch (in vielen religiös geprägten Kulturkreisen) alle Formen von Sexualität, die nicht der Fortpflanzung dienten, als moralisch verwerflich galten und gelten, finden sich z.B. im Bereich der Sexualität besonders viele Beispiele für Pathologisierung. Diese abwertende Form der Medikalisierung löste die Sichtweise als „sündhaft“ mit dem Aufkommen moderner (Natur-)Wissenschaften teilweise ab. Aber auch viele andere menschliche Verhaltensweisen wurden in diesem Kontext pathologisiert durch Konzepte wie Sucht usw.
Historisch besteht ein Zusammenhang zwischen Marginalisierung/Unterdrückung und Pathologisierung; die Pathologisierung von Gruppen ist ein Mittel, um sie als irrational, nicht zurechnungsfähig/unmündig zu diffamieren und somit von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe auszuschließen, z.B. wenn Frauen, die sich gegen Bevormundung durch Männer wehrten, als „hysterisch“ bezeichnet wurden. Für viele soziale Bewegungen bzw. Selbstvertretungen marginalisierter Gruppen stellt deswegen der Kampf gegen die Pathologisierung eine wichtige Strategie zur Emanzipation dar. Teilweise wird jedoch auch kontrovers diskutiert, inwiefern diese politischen Strategien der Entpathologisierung dabei zur Folge haben, dass eine Gruppe sich von anderen, noch stärker marginalisierten Gruppen abgrenzt, um sich ein Stück Normalität zu erkämpfen. So diskutiert die trans* Aktivist*in mit Behinderung Eli Clare kritisch, inwiefern sich die trans* Bewegung mit einem Schwerpunkt auf Entpathologisierung von Menschen, die „wirklich verrückt“ seien und die möglicherweise auf Diagnosen im Rahmen von Unterstützungsbedarfen angewiesen sind, abgrenzt. Stattdessen plädiert Clare dafür, die grundsätzliche Macht von Diagnosesystemen auf das Leben aller möglichen Menschen im Blick zu behalten und sich untereinander solidarisch zu verhalten. Teilweise wird die politische Strategie der Entpathologisierung auch mit einer Kritik an Kategorisierung und Diagnosen an sich verbunden, so z.B. beim Mad Pride oder der Initiative „Behindert und verrückt feiern“ als Fußgruppe auf dem Pride in Berlin.
2023
Robin Bauer
Literatur
- Allex, Anne (Hrsg.) (2013): Stop Trans*-Pathologisierung 2012. Berliner Beiträge zu einer internationalen Kampagne. Ulm: AG SPAK, 2. Auflage.
- Clare, Eli (2013): Body Shame, Body Pride. Lessons From The Disability Rights Movement. In: Stryker, Susan/Aizura, Aren Z. (Hrsg.): The Transgender Studies Reader 2. New York/London: Routledge, S. 261-265.
- Goffman, Erving (1967): Stigma. Über die Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
- Lüthi, Eliah (2020): Trans*normal? Die subtile Herstellung von Gendernormen durch psychiatrische Diagnosen. In: Sperk, Verena u.a. (Hrsg.): Geschlecht und Geschlechterverhältnisse bewegen. Bielefeld: transcript Verlag, S. 13-44. doi: 10.14361/9783839451014-002.
- Stehr, Johannes (2013): Normalität und Abweichung. In: Albert Scherr (Hrsg.): Soziologische Basics. Eine Einführung für pädagogische und soziale Berufe. Wiesbaden: Springer VS, S. 191–197.
