Postmigrantisch

Postmigrantisch

Postmigrantisch beschreibt ein Verständnis von Gesellschaft, Kultur und Identität, in der nicht angenommen wird Migration sei ein Ausnahmezustand. Der Begriff kritisiert Migrations- und Integrationsdebatten, die ein Ende der Migration, sowie Abschiebungen fordern. ‚Postmigrantisch‘ setzt stattdessen Ein- und Auswanderung als fortlaufenden und normalen Bestandteil von Gesellschaften voraus. Der Zustand, dass in Gesellschaften alltäglich verschiedene Menschen miteinander in Kontakt treten, die z.B. unterschiedliche Sprachen sprechen, unterschiedliche Feiertage feiern und unterschiedlich aussehen, wird in einer ‚postmigrantischen Gesellschaft‘ wahrgenommen. Außerdem wird erkannt, dass die Strukturen einer Gesellschaft – wie Schulen oder Bürgerämter – an diesen Alltag angepasst werden müssen, damit alle am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Eine ‚postmigrantische Perspektive‘ fordert einen Perspektivwechsel ein: Statt beim Thema Migration nur auf Zugewanderte und ihre Nachkommen zu schauen, sollte der Umgang der gesamten Gesellschaft mit Migration in den Blick genommen werden. 

Etabliert wurde der Terminus ‚Postmigrantisch‘ im Jahr 2008 von der Berliner Theaterintendanten Shermin Langhoff, als Reaktion auf die Einordnung ihrer Theaterproduktionen als ‚migrantisches Theater‘.  Langhoff lehnte den Begriff ‚migrantisch‘ ab, da sie und ihr Theater „die Perspektive von Menschen, die nicht mehr selbst migriert sind, aber Migration als persönliche und kollektive Erinnerung mitbringen“ (Langhoff 2011) zeige und dass diese Erfahrung nicht nur sie, sondern auch die deutsche Kulturlandschaft und Gesellschaft präge. Ihr Theater – das Ballhaus Naunystraße – sei stattdessen ein ‚postmigrantisches Theater‘.

Das Label ‚postmigrantisch‘ stellte für Langhoff den Versuch dar mit Narrativen zu brechen, die ‚Deutschsein‘ und die ‚deutsche Gesellschaft‘ anhand eines generationalen Abstammungsprinzips konstruieren und damit Migration nur innerhalb einer gelungenen oder misslungenen Integration in die ‚deutsche Gesellschaft‘ verorten. Zudem beschrieb ‚postmigrantisch‘ hier einen diversen Raum, der sich nicht auf Herkunft begründet.

In den Geisteswissenschaften wurde der Terminus schon zuvor diskutiert und angewendet. Insbesondere um die Perspektive von Künstler*innen und Schriftsteller*innen der sogenannten zweiten und dritten Generation zu beschreiben – ergo von Personen, deren Eltern oder Großeltern migrierten, sie selbst jedoch in Deutschland aufgewachsen sind. Doch Langhoff nutze den Begriff subversiv und wehrte sich damit gegen den Vorwurf, ihre Perspektive sei nicht Teil der deutschen Gesellschaft und die Sichtbarkeit von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Theaterlandschaft führe zu einer „Parallel-Theatergesellschaft“. Ihr Verständnis von ‚Postmigrantisch‘ postuliert, dass die Perspektive von Personen mit Migrationsgeschichte genauso Teil von Deutschland ist wie der vermeintliche Gegenpart einer „Gesellschaft der weißen, nationalen, sesshaften Nicht-Migranten“ (Römhild 2015:39).

Durch den Bedeutungswandel kam es zu einer gesellschaftswissenschaftlichen Überarbeitung des Begriffs und seiner Übertragung auf Kontexte außerhalb Deutschlands, wie auf die Schweiz oder Großbritannien. In diesem Verständnis wird verdeutlicht, dass das Präfix ‚post‘ in ‚postmigrantisch‘ nicht meint Migrationsbewegungen seien abgeschlossen, sondern dass Migration als Themenkomplex gesellschaftlich ausgehandelt wird und politische Haltungen, Normen und Regulationen produziert.

Für die Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik, Naika Foroutan, hat der Begriff ‚postmigrantisch‘ nach Langhoffs Verständnis das Potential die kontinuierliche Hybridisierung und Pluralisierung der Gesellschaft, die Fluidität von Kultur und die Transformation kollektiver Identitäten zu erfassen. Darauf aufbauend entwickelte Foroutan die Ansätze der ‚postmigrantischen gesellschaftswissenschaftlichen Analyse‘, sowie der ‚postmigrantischen Gesellschaft‘. Die ‚postmigrantische Gesellschaft‘ fungiert dabei als Gegenentwurf zu einer durch das Paradigma der Integration geprägten Gesellschaft. Nach Foroutan muss eine Gesellschaft drei Bedingungen erfüllen, um als ‚postmigrantisch‘ zu gelten. Eine Gesellschaft muss ihre heterogene Grundstruktur politisch anerkennen, ungeachtet ob diese als negativ oder positiv gewertet wird. Sie muss anerkennen, dass Ein- und Auswanderung reguliert und ausgehandelt werden können jedoch es nicht möglich ist sie und ihre Prägungen rückgängig zu machen. Und schließlich müssen Institutionen und Strukturen, darunter die Politik, der Arbeitsmarkt, das Schulsystem, usw. ‚nachholend‘ an die erkannte Migrationsrealität angepasst werden, um soziale Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen. Gleichzeitig erkennt Foroutan an, dass diese Anpassung auch zu Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfen führt.

In aktivistischen und im kulturellen Bereich nutzen Akteure*innen den Begriff immer wieder als Mittel der Selbstermächtigung und des Widerstands genutzt. Widerstand leisten die Akteur*innen dabei gegen Diskriminierung im Allgemeinen oder gegen die Selbstverständlichkeit eines ausschließlich weißen, nicht-migrierten Literaturkanons bzw. einer künstlerischen Produktion. Die Autor*innen des Buches ‚Postmigrant Turn‘ halten zusätzlich fest, dass ‚postmigrantisch‘ in künstlerischen Kontexten genutzt wird, um zu Bündnisse zwischen postmigrantischen Communities untereinander oder zur Solidarisierung von privilegierten Personen mit marginalisierten und diskriminierten Personen aufzurufen. Zudem nutzen Künstler*innen und Autor*innen den Begriff, um durch autofiktive Ansätze gesellschaftlich marginalisierte Perspektiven und ihre Alltäglichkeit sichtbar zu machen.

Zusammenfassend sei gesagt, dass sich unterschiedliche Akteur*innen aus den Bereichen der Wissenschaft, der Kultur und des Aktivismus mit dem Begriff ‚postmigrantisch‘ gegen die Vorstellung einer weißen, christlichen und nicht-migrierten Norm und Leitkultur in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern einsetzen. Sie verweisen dabei auf die Alltäglichkeit von Migration und Pluralität von Gesellschaften und fordern ein, dass eine Gesellschaft lernen muss mit Pluralität umzugehen. Aus diesem Grund nutzen viele Akteur*innen ‚postmigrantisch‘ auch dazu, um einen gerechten Umgang mit Pluralität in Bezug auf Gender, sexueller Selbstbestimmung, Religion, Schicht und Klasse, sowie Rassismus einzufordern.

2024
Riv Elinson

Literatur:

  • Cramer, Rahel/ Schmidt, Jara /Thiemann, Jule (2023): Postmigrant Turn. Postmigration als kulturwissenschaftliche Analysekategorie. In: Jünger, David/Nitsche, Jessica/ Voigt, Sebastian (Hrsg.): Relationen – Essays zur Gegenwart 16.
  • Foroutan, Naika (2015): Die postmigrantische Gesellschaft. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/205190/die-postmigrantische-gesellschaft/, 05.09.2024
  • Foroutan, Naika (2018): Was will eine postmigrantische Gesellschaftsanalyse? In: Foroutan, Naika/Karakayali, Juliane/Spielhaus, Riem (Hrsg): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentation, Kritik. Bonn: Sonderausgabe für die Bundeszentrale der politischen Bildung, S. 269-299.
  • Langhoff, Shermin (2011): Die Herkunft spielt keine Rolle – »Postmigrantisches« Theater im Ballhaus Naunystraße. Interview mit Shermin Langhoff. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier. https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/60135/die-herkunft-spielt-keine-rolle-postmigrantisches-theater-im-ballhaus-naunynstrasse/, 04.09.2024
  • Moslund, Sten Pultz (2019). Postmigrant Revisions of Hybridity, Belonging, and Race in Gautam Malkani’sLondonstani.ariel: A Review of International English Literature,50(2-3), 105-136.
  • Römhild, Regina (2015): Jenseits ethnischer Grenzen. Für eine postmigrantische Kultur- und Gesellschaftsforschung. In: Yildiz, Erol (Hrsg.): Nach der Migration. Bielefeld. S.37-48.
  • Schramm, Moritz (2018): Jenseits der binären Logik. Postmigrantische Perspektiven für die Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Foroutan, Naika/Karakayali, Juliane/Spielhaus, Riem (Hrsg): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentation, Kritik. Bonn: Sonderausgabe für die Bundeszentrale der politischen Bildung, S. 83-94.