Vertreibung

Glossarbeitrag: Vertreibung

Vertreibung bezeichnet die erzwungene, häufig gewaltsame Entfernung von Menschen aus ihrer Heimat oder ihrem Wohnort. Oft geschieht dies unabhängig davon, ob der Wohnort der Vertriebenen ihr Heimatland ist oder nicht. Vertreibungen laufen vor allem im Kontext von Krieg, ethnischen Konflikten, politischer Verfolgung ab und gehen häufig mit Landnahme einher. Betroffene Personen müssen ihr Zuhause verlassen und verlieren meist ihr Hab und Gut. Diese gewaltsamen Entfernungen führt zu großem Leid und können ganze Bevölkerungsgruppen betreffen. Sie sind oft mit langfristigen rechtlichen und sozialen Herausforderungen verbunden, insbesondere wenn die Vertriebenen nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Diese erheblichen sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Auswirkungen die aufgrund von Vertreibung resultieren, können über Generationen nachwirken.

Der Begriff Vertreibung grenzt sich von anderen Begriffen wie Flucht und Migration ab. Bei der Vertreibung gilt das zentrales Merkmal der Gewalt und die unter Zwang vollzogene Entfernung der Betroffenen. Weiter anzumerken ist, dass die Begriffsunterscheidung von Flucht und Vertreibung vor allem im deutschsprachigen Kontext von Bedeutung ist. International ist dieser Begriff nicht gebräuchlich; in anderen Ländern wird meist der Begriff Flucht dafür genutzt. Eine klare Trennung zwischen Flucht und Vertreibung ist deshalb schwierig. Vertreibung impliziert also eine gezielte Handlung, die Menschen zur Flucht zwingt. In der Forschung wird deshalb zunehmend der Begriff Zwangsmigration verwendet, um beide Aspekte zu erfassen.

Geprägt wurde der Begriff Vertreibung in der frühen Phase der Bundesrepublik maßgeblich durch Vertriebenenverbände. Sie hoben den Zwangs- und Unrechtscharakter des Schicksals der Betroffenen dadurch hervor und präsentierten die Lage der Vertriebenen in einem bestimmten politischen und moralischen Kontext.

In “Vertreibung, Flucht, Migration und Asyl im europäischen Kontext” (2019) bietet Andreas Demmig eine präzise Analyse der Begriffsabgrenzung zwischen Migration und Vertreibung. Migration wird als umfassenderer Begriff verstanden, der sowohl freiwillige als auch unfreiwillige Bewegungen von Menschen umfasst. Im Gegensatz dazu bezeichnet Vertreibung eine spezifische Form erzwungener Migration, bei der Menschen gezwungen sind, aufgrund von Gewalt, politischen Konflikten oder Diskriminierung ihren Wohnort zu verlassen. Demmig zeigt, dass die Unterscheidung in vielen Fällen schwierig ist, da beide Prozesse durch Zwangselemente geprägt sein können. Jedoch ist beim Begriff Vertreibung der Aspekt des staatlichen bzw. nichtstaatlichen Zwangs von Außen stärker verankert.

Historisch gesehen sind Vertreibungen wie oben bereits erwähnt meist mit Krieg, politischer Unterdrückung oder religiöser Verfolgung verbunden.  So wurden zum Beispiel im Mittelalter Jüd*Innen aus verschiedenen deutschen Städten vertrieben, was mit Pogromen und Enteignungen einherging.

Ein Beispiel aus der Neuzeit ist die Vertreibung von Millionen Deutschen aus Ost- und Mittelosteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Vertreibungen wurden durch die politischen Umstrukturierungen nach dem Krieg und die Repressionen gegen die deutsche Bevölkerung in diesen Gebieten ausgelöst.

Im 20. Jahrhundert wurde Vertreibung zu einem zentralen Element des Holocausts, als die nationalsozialistische Regierung Millionen Jüd*Innen aus ihren Heimatländern deportierte und ermordete.

In der SWANA Region ist unter anderem der die Vertreibung von Palästinenser*innen aus ihrem Heimatgebieten im Zuge des Arabisch-Israelischen Krieges 1948 als Beispiel zu nennen: Diese Vertreibung wird in der arabischen Welt als „Nakba“ (Katastrophe) bezeichnet.

Vertreibungen haben in den meisten Fällen langanhaltende Flüchtlingskrisen zur Folge, die internationale Hilfe und Schutzmaßnahmen für die Menschen erfordern. Viele dieser Betroffenen und ihre Nachfahren leben nach dieser Gewalterfahrung in Flüchtlingslagern oder im Exil.

 

12.09.2024 – Ilham Bani Odeh

Literaturangaben:

  • Akçam, T. (2012). The Young Turks’ Crime Against Humanity: The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire. Princeton: Princeton University Press.
  • Andreas Demmig (2019). Vertreibung, Flucht, Migration und Asyl im europäischen Kontext. Wien: Böhlau Verlag.
  • Brenner, M. (2004). The German Jews: A Historical Portrait. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
  • Douglas, R. M. (2012). Orderly and Humane: The Expulsion of the Germans after the Second World War. München: C.H. Beck.
  • Hahn, Hans-Walter, & Hahn, Eva (2010). Die Vertreibung im deutschen Erinnern: Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn: Schöningh Verlag.
  • Morris, B. (2008). 1948: A History of the First Arab-Israeli War. New Haven: Yale University Press. [Originalausgabe: 1948]
  • Rees, L. (2005). The Holocaust: A History. New York: Vintage Books.