Victim blaming

Der Begriff victim blaming wird im deutschen Sprachgebrauch Täter-Opfer-Umkehr oder Schuldumkehr genannt. Es handelt sich um ein psychologisches Vorurteil und/oder eine manipulative Strategie, um dem Opfer anstelle dem*der Täter*in die Schuld an einer Tat zuzuschreiben. Der Begriff stammt aus dem Bereich sexualisierter Gewalt, kann jedoch auch auf verbale und physische Gewalt in anderen Kontexten angewandt werden.

Was ist victim blaming? Victim blaming wird im deutschen Sprachgebrauch Täter-Opfer-Umkehr oder Schuldumkehr genannt. Es bedeutet dem Opfer die Schuld an einer Tat zuzuschreiben. Der Begriff stammt aus dem den 1970er Jahren aus dem Kontext strafrechtlich relevanter Taten von sexualisierter, häuslicher und rassistischer Gewalt. Dieses Phänomen wird in der Psychologie als Vorurteil oder Voreingenommenheit gegenüber dem Opfer beschrieben. Im Rahmen der kritischen Theorie wird es als manipulative Strategie zur Erhaltung von Machtgefällen (Patriarchat, Rassismus, Klasse, LSBTQA* und globale Machtgefälle) betrachtet. Argumentationen der Täter-Opfer-Umkehr werden dazu genutzt Täter*innen (in strafrechtlichen Prozessen) zu entlasten und ihre soziale Position zu stärken. Wie genau diese Anschuldigungen aussehen und wie stark sie wiegen, wird stark durch Mehrfachdiskriminierungen (Intersektionalität) beeinflusst.

Wie funktioniert victim blaming? Überlebenden von sexualisierter Gewalt wird typischerweise vorgeworfen, dass ihre Kleidung, ihre Entscheidung sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit aufzuhalten oder ihr Sexualleben in der Vergangenheit den Übergriff provoziert habe. Betroffene müssen sich zudem häufig dafür rechtfertigen zu welchem Zeitpunkt sie Hilfe bei der Polizei eingeholt haben. Auch im Bereich häuslicher Gewalt ist das Phänomen weit verbreitet. Anstelle die Schuld bei den Täter*innen häuslicher Gewalt zu suchen, wird den Betroffenen vorgeworfen die Beziehung nicht frühzeitig genug beendet zu haben. Personen, die Mikroaggressionen erlebt haben, wird beispielsweise gänzlich abgesprochen, dass diese überhaupt stattgefunden haben. Auf persönlicher Ebene funktioniert victim blaming meist so, dass die Wahrnehmung der Betroffenen geleugnet wird oder ihre Reaktion als übertrieben, dramatisch oder hysterisch bezeichnet wird. Betroffenen von Gewalt werden Hilfeleistungen verwehrt und stattdessen beschuldigt. Deshalb erhöht victim blaming die Wahrscheinlichkeit von Traumafolgestörungen und wird auch als zweite Viktimisierung bezeichnet. Wenn Zeug*innen den Betroffenen eine (Teil)verantwortung zuschreiben, senkt sich ihre Bereitschaft einzuschreiten oder zu helfen deutlich herab.

Wo passiert victim blaming und wer tut es? Victim blaming wird häufig in Gerichtsverhandlungen von der Strafverteidigung des Täters angewendet. Auch Richter*innen können schuldumkehrende Vorurteile auf ihr Urteil Einfluss nehmen lassen. Darüber hinaus ist Täter-Opfer-Umkehr in der gesamten Gesellschaft weit verbreitet: Einerseits auf privater Ebene wenn sich Betroffene gegenüber Bekannten, Freund*innen, Familie und Kolleg*innen anvertrauen, andererseits findet victim blaming in den Medien statt zum Beispiel in Zeitungsartikeln über Straftaten. Personen jedweden Geschlechts, sexueller Orientierung oder ethnischer Zugehörigkeiten können die Strategie des victim blamings anwenden oder einschlägige Vorurteile haben. Diese Strategie der Manipulation/das psychologische Vorurteil ist so weit verbreitet, dass sich viele Betroffene selbst die Schuld geben.

Im Rahmen der kritischen Theorie wird der Begriff victim blaming auch auf kollektive Prozesse und Machtgefälle angewandt. Zum Beispiel im Bereich Antisemitismus als Schuld- und Erinnerungsabwehr. Täter-Opfer-Umkehr wird auch im globalen Kontext praktiziert: Beispielsweise wenn armutsbetroffenen Staaten vorgeworfen wird, dass sie aufgrund eigener Schuld und „Faulheit“ arm seien, obwohl der Grund der Armut von Staaten oft in ihrer kolonialen Geschichte und kontinuierlicher Ausbeutung liegt.

05.09.2024
Miriam Schröder

Literatur:

  • Goldenberg, R. (1999). On the Origins of Anti-Semitism and the Problem of Blaming the Victim. Jewish Studies Quarterly, 6(3), 251–260.
  • Johnson, V. E., Nadal, K. L., Sissoko, D. R. G., & King, R. (2021). “It’s Not in Your Head”: Gaslighting, ‘Splaining, Victim Blaming, and Other Harmful Reactions to Microaggressions. Perspectives on Psychological Science, 16(5), 1024-1036.
  • Kevin D. McCaul, Lois G. Veltum, Vivian Boyechko, Jacqueline J. Crawford: Understanding Attributions of Victim Blame for Rape: Sex, Violence, and Foreseeability. In:Journal of Applied Social Psychology. 20. Jahrgang, Nr. 1, Januar 1990, S. 1–26
  • Spaccatini, F., Pacilli, M.G., Pagliaro, S. et al. Victim blaming 2.0: blaming sexualized victims of online harassment lowers bystanders’ helping intentions. Curr Psychol 42, 19054–19064 (2023)
  • Witte, L. P., & Flechsenhar, A. (2024). “It’s Your Own Fault”: Factors Influencing Victim Blaming. Journal of Interpersonal Violence.